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diebank 06 // 2020

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REGULIERUNG REVIVAL DES

REGULIERUNG REVIVAL DES WIDERRUFSJOKERS? Paukenschlag-Entscheidung des EuGH zum Widerruf von Kreditverträgen Seit beinahe 20 Jahren herrscht Streit zwischen Verbraucheranwälten und Banken darüber, ob die von den Banken verwendeten Widerrufsbelehrungen den gesetzlichen Anforderungen entsprechen oder nicht. Nachdem die erste Welle abebbte, rollt nunmehr – getrieben durch eine aktuelle Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union – die nächste Widerrufswelle an. Damit stehen Banken inmitten der Corona-Krise vor einer weiteren Herausforderung. Der Europäische Gerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 26. März 2020 neuen Wirbel in den Widerruf von Kreditverträgen gebracht: Der EuGH hat entschieden, dass eine am Markt übliche Widerrufsbelehrung, namentlich die vom 4. August 2011 bis 20. März 2016 gültige Musterwiderrufsinformation für Verbraucherdarlehensverträge, den Verbraucher nicht „klar“ und „prägnant“ über den Beginn der Widerrufsfrist belehrt hat – und so den Widerrufsjoker wiederbelebt. Angeheizt von der medialen Berichterstattung ist zu befürchten, dass immer mehr Verbraucher ihre Darlehensverträge und die dazugehörigen Widerrufsbelehrungen prüfen, um sich vorzeitig von hoch- oder höherverzinsten Darlehen zu lösen. Die Banken haben bereits unter der ersten Widerrufswelle Verluste in Milliardenhöhe erlitten. Jetzt ist die „Widerrufsjoker-Klagewelle 2.0“ im Anrollen – die Banken müssen sich wappnen. Übereilungsschutz Bereits seit der zum 1. Januar 2002 in Kraft getretenen Schuldrechtsreform besteht für Verbraucher ein Widerrufsrecht nach den §§ 355 ff. BGB hinsichtlich solcher Verträge, bei denen ein besonderes Schutzbedürfnis für Verbraucher besteht. § 495 BGB gewährt dem Verbraucher bei der Aufnahme des Dar- lehens ein Widerrufsrecht. Sinn und Zweck ist die zusätzliche Überlegungsfrist. Aufgrund der erheblichen wirtschaftlichen Bedeutung einer Kreditaufnahme wird dem Verbraucherdarlehensnehmer nach Eintritt der rechtlichen Bindungswirkung durch den Vertragsschluss eine zusätzliche Überlegungsfrist eingeräumt. Bis zum Ablauf dieser Frist kann er frei und ohne Begründungszwang entscheiden, ob er seine auf den Abschluss des Vertrags gerichtete Willenserklärung durch Widerruf zurücknehmen möchte. Wirtschaftlicher Hintergrund Hinter dem Widerruf eines Darlehens stecken meist wirtschaftliche Motive. So können durch Umschuldung erhebliche Zinsbeträge erspart werden. Beispielsweise ist der durchschnittliche Effektivzins für an private Haushalte ausgereichte besicherte Wohnungsbaukredite mit Laufzeiten von fünf bis zehn Jahren ausweislich der MFI-Zinsstatistik seit Anfang des Jahres 2008 kontinuierlich gesunken. Während der Effektivzinssatz im Januar 2008 bei 5,04 Prozent p. a. lag, belief er sich im Januar 2020 auf 1,16 Prozent p.a. Damit ging einher, dass sich die Differenz zwischen den in der Vergangenheit vereinbarten und den bei Neuabschlüssen angebotenen Zinssätzen seither nahezu monat- lich vergrößerte. Insbesondere eine für einen gewissen Zeitraum geltende Regelung, dass eine hafte Widerrufsbelehrung zu einem „ewigen fehler- Widerrufsrecht“ führt, machten sich viele Verbraucher zunutze, um sich von ihren hochverzinsten Darlehensverträgen nahezu kostenfrei zulasten der Banken zu lösen. Aufgrund der bestehenden Gesetzeslücke war der Rückgriff auf das richterrechtliche Rechtsinstitut der Verwirkung und der unzulässigen Rechtsausübung häufig das einzige Verteidigungsmittel, um dem „ewigen Widerrufsrecht“ zu begegnen. Ob die Voraussetzungen für die Verwirkung oder der unzulässigen Rechtsausübung eingetreten sind, bedarf der tatrichterlichen Würdigung in jedem Einzelfall. 56 06 // 2020

REGULIERUNG Der Widerrufsjoker Der Begriff „Widerrufsjoker“, der sich im Rahmen der ersten Klagewelle entwickelt hat, beschreibt die Möglichkeit, einen Verbraucherdarlehensvertrag auch viele Jahre nach Vertragsschluss rückabwickeln zu können. Grundsätzlich kann ein Darlehensnehmer nur innerhalb der gesetzlich vorgegebenen Frist seine auf den Abschluss eines Darlehensvertrags gerichtete Willenserklärung widerrufen. Formfehler bei Widerrufsbelehrungen von Darlehensverträgen eröffnen den Verbrauchern die keit, auch viele Jahre nach Vertragsschluss Möglich- den Vertrag vorzeitig aufzulösen. Möglich machte dies eine gesetzliche Regelung, die ab August 2002 bis Juni 2010 galt, wonach das Widerrufsrecht nicht erlischt, wenn der Verbraucher nicht ordnungsgemäß über sein Widerrufsrecht belehrt worden ist. Aus dieser Gesetzeslage resultierte das sog. „ewige Widerrufsrecht“. Im Rahmen der Umsetzung einer Richtlinie der Europäischen Union (Richtlinie 2014/17/EU), die die Vereinheitlichung des Verbraucherschutzes innerhalb der EU zum Ziel hatte, wurde das Widerrufsrecht zeitlich begrenzt. Der § 355 Abs. 4 BGB, der eine unbegrenzte Geltendmachung des Widerrufsrechts nach einer Falschbelehrung regelte, wurde ersatzlos gestrichen, sodass ein ewiges Widerrufsrecht für Verträge ab diesem Zeitpunkt nicht mehr bestand. Gestaltung der Widerrufsbelehrung Problematisch war, dass bis zum Jahr 2012 Rechtsunsicherheit darüber bestand, unter welchen Voraussetzungen eine Widerrufsbelehrung in Verbraucherdarlehensverträgen den Anforderungen standhält, die Gesetz und Rechtsprechung stellen. Es war selbst auch einschlägig Rechtskundigen, wie z. B. dem Verordnungsgeber der BGB-InfoV, dem Bundesverband deutscher Banken und den Kommentatoren des führenden Standardwerks im Bankrecht – dem Bankrechts-Handbuch –, damals schlichtweg nicht möglich, eine Widerrufsbelehrung so zu verfassen, dass sie den sich später erst noch herausstellenden Anforderungen der Rechtsprechung gesichert standhält. Die Thematik des „ewigen Widerrufsrechts“ wegen fehlerhafter Widerrufsbelehrungen betrifft die Kreditwirtschaft säulenübergreifend, was u. a. aus einer auf der Website der Stiftung Warentest (2020) veröffentlichten Dokumentation der von Verbrauchern gewonnenen Verfahren hervorgeht. Um dem Unternehmer die Belehrung des Verbrauchers zu vereinfachen und einen einheitlichen Verbraucherschutz zu gewährleisten, schuf der Gesetzgeber eine sog. Musterbelehrung, die sich für bis zum 10. Juni 2010 ausgereichte Verbraucherdarlehensverträge im Anhang 2 zu § 14 Abs. 1 und 3 BGB Info V a. F. befand. Unklar war allerdings, ob der Verwendung dieser Musterwiderrufsbelehrung gemäß Anlage 2 zu § 14 Abs. 1 und Abs. 3 BGB-InfoV a. F. Schutzwirkung zukommt. Erst nach vielen Jahren, in denen der Streit zwischen Verbraucheranwälten und Banken tobte, erließ der BGH am 15. August 2012 (Az. VIII ZR 378/11) dazu eine Grundsatzentscheidung, in der er die Gesetzlichkeitsfiktion (= Schutzwirkung) des § 14 Abs. 1 BGB-InfoV a. F. bejaht hat. In der Musterwiderrufsbelehrung findet sich ein sog. Kaskadenverweis, d. h. ein Verweis auf eine Vorschrift, die wiederum selbst auf weitere Rechtsvorschriften verweist. Der EuGH hat am 26. März 2020 entschieden, dass solch ein Verweis den Verbraucher nicht hinreichend informiert. Das Urteil des EuGH Der EuGH hat am 26. März 2020 auf ein Vorabentscheidungsgesuch verbraucherfreundlich entschieden und zwei wesentliche Aussagen zu den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Widerrufsbelehrung getätigt: Zum einen stellte der EuGH fest, dass Art. 10 Abs. 2 Buchst. p RL 2008/48/EG dahin auszulegen sei, dass zu den Informationen, die nach dieser Bestimmung in einem Kreditvertrag in klarer, prägnanter Form anzugeben seien, die in Art. 14 Abs. 1 Unterabsatz 2 dieser Richtlinie vorgesehenen Modalitäten für die Berechnung der Widerrufsfrist gehören. Zur Begründung heißt es, dass die Information über das Widerrufsrecht für den Verbraucher angesichts der Bedeutung dieses Rechts für den Verbraucherschutz von grundlegender Bedeutung sei. Um von dieser Information vollumfänglich profitieren zu können, müsse der Verbraucher im Vorhinein die Bedingungen, Fristen und Modalitäten für die Ausübung des Widerrufsrechts kennen. Anderenfalls würde die Wirksamkeit des Widerrufs geschwächt werden. Zum anderen stellte der EuGH fest, dass Art. 10 Abs. 2 Buchst. p RL 2008/48/EG dahin auszulegen sei, dass er dem entgegensteht, dass ein Kreditvertrag hinsichtlich der in Art. 10 RL 2008/48/EG genannten Angaben auf eine nationale Vorschrift verweise, die wiederum selbst auf weitere Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats verweise (sog. Kaskadenverweis). Solch eine Verweisung auf 06 // 2020 57

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