BERUF & KARRIERE STÄRKUNG BETRIEBLICHER PROBLEMLÖSUNGSKOMPETENZ Gesunder Menschenverstand – eine Mangelware? Einen „Mangel an gesundem Menschenverstand“ stellt Dr. Olaf-Axel Burow in der heutigen Berufswelt zunehmend fest. Der Kasseler Pädagogik-Professor befasst sich forschend und lehrend seit über 40 Jahren mit Fragen der Zukunftsgestaltung. Im Interview mit „die bank“ ordnet er ein, warum er diese Entwicklung für bedenklich hält und wie Unternehmen abweichende Meinungen in neue Ideen umsetzen können. die bank: Herr Professor Burow, was bemängeln Sie an dem Umgang mit den Herausforderungen und den Problemen der Zeit? Olaf-Axel Burow: Die fehlende kritische Distanz zu sowie den daraus folgenden verbissenen Umgang mit tatsächlich oder vermeintlich Problematischem. Innovation ideologisch fixiert ist immer bedenklich. die bank: Könnten Sie das bitte noch etwas vertiefen? Burow: Verstehen wir gesunden Menschenverstand als die praktische Umsetzung der Forderung Kants, sich seines Verstands ohne Bevormundung durch andere zu bedienen, dann steht es derzeit schlecht um den gesunden Menschenverstand. Der Zeitgeist hat der kritisch reflektierenden, sorgfältig Pro und Contra abwägenden und gewichtenden Denk- und Handlungsweise den Kampf angesagt. Erkennbar daran, dass es quasi verboten ist, tonangebende Ansichten und Meinungen zu hinterfragen. Selbst und dazu auch noch kritisch zu denken und dann auch noch mit der abweichenden eigenen Meinung nicht hinter dem Berg zu halten, hat den Charakter von Majestätsbeleidigung bekommen. Expertenurteile gelten als sakrosankt. Das ist hochproblematisch, denn die Zuschreibung „Experte“ wird ebenso beliebig wie inflationär und zudem auch noch ausgrenzend gehandhabt. die bank: All das widerspricht dem gesunden Menschenverstand? Burow: Es kollidiert geradezu mit dem Wesen des gesunden Menschenverstands. Gesunder Menschenverstand heißt, sich aufgrund umfassender Information ein eigenes Urteil zu bilden. 1989 veröffentlichte der inzwischen emeritierte Bamberger Psychologieprofessor Dietrich Dörner sein grandioses Buch „Die Logik des Misslingens“, damals „Standardwerk des Querdenkens“ für Psychologen, Kognitionswissenschaftler, Risikoforscher und Motivationstrainer. Wie die Zeit sich doch gewandelt hat. die bank: Soll heißen, die Außensteuerung verdrängt die Innensteuerung? Burow: Ist das noch zu übersehen? Tatsache ist doch, von vermeintlichen, gern auch selbst ernannten oder von den Medien dazu beförderten Experten werden wir fortlaufend bevormundet und in alle nur denkbaren Ängste versetzt. Das Geschäft mit der Desinformation und vor allem auch der Angst bestimmt heute mehrheitlich das Geschehen. Wir lassen uns von außen steuern und vorschreiben, was wir zu denken, zu tun und zu lassen haben und uns in immer neue Ängste hineintreiben. Der labile psychische Gesundheitszustand Vieler, der auf berufliche Belastung zurückgeführt wird, muss zwingend auch aus dieser Perspektive betrachtet werden. die bank: Wollen Sie sagen, wird der gesunde Menschenverstand diskreditiert, führt das zu einer individuellen wie gesellschaftliche Fehlorientierung? Burow: Das von den amerikanischen Professoren Richard H. Thaler und Cass R. Sunstein erfundene Nudging, der kleine Anstoß, um Menschen in die gewünschte Richtung zu lenken, wird großflächig missbraucht. Ein kleiner Stubser soll dazu veranlassen, zu tun, was zeitgeistig als opportun und notwendig angesehen wird. Das ist Manipulation par excellence. Deutlicher gesagt: Das ist die Ausschaltung kritischer Intelligenz. Und dieser Vorgang steht in hoher Blüte. Worauf anders, als auf eine breite gesellschaftliche Fehlorientierung und einen fehlorientierten Mitteleinsatz läuft das hinaus? Sinnvolles, fachlich sauberes, innovatives Problemlösen sieht anders aus. Mit jedem Nudge, der willig befolgt wird, wird eine gesellschaftliche Richtung vorgegeben, die in ihrer Zweckrationalität oft genug unsinnig ist. Das missfällt Menschen mit gesundem Menschenverstand. Sie gehen auf Distanz zu den umlaufenden Aufgeregtheiten, prüfen, was ihnen „verkauft“ werden soll, sie wägen 70 02 | 2022
BERUF & KARRIERE „Die fehlende Wertschätzung eigenständig denkender Mitarbeiter kann leicht in der inneren Kündigung resultieren.” ab, bilden sich ein eigenes Urteil. Sie wissen, es gibt einen Unterschied zwischen theoretischem Wissen und dem im Feuer der Praxis gehärteten Erfahrungswissen. die bank: Und auf diesen Unterschied sollte mehr geachtet werden? Burow: Zu meinem Arbeitsbereich gehört die Organisationsentwicklung. Da lässt sich ganz wunderbar erkennen, wie sehr Theorie und Praxis zwei Paar Schuhe sind. Meine Erfahrungen aus diesem Bereich, in dem wir mit großen Gruppen aller Beschäftigten über Optimierungsund Entwicklungsmaßnahmen nachdenken, verweisen auf eine verblüffende individuelle Sachkunde und Fähigkeit, sich in Problemstellungen hineinzudenken. Das spricht für einen scharf beobachtenden, sich eigene Gedanken machenden gesunden Menschenverstand, der sich auf Fachwissen plus Erfahrungswissen stützt. So notwendig in der heutigen hochkomplexen, weltweit vernetzten, von vielfachen Interdependenzen geprägten Wirtschaft externes Fachwissen – also Berater – auch sind, viel zu leicht wird darüber vergessen, welch beachtliche, in der Belegschaft vorhandene Beratungsfähigkeit in allen Unternehmen vorhanden ist. Diese Fähigkeit könnte und müsste für die innovierende Unternehmensentwicklung viel intensiver genutzt werden. die bank: Aber warum wird sie das nicht? Burow: Weil das ständig geforderte Mitdenken mehr Fensterrede als reale Aufforderung ist. Der mündige Bürger wie der mitdenkende Mitarbeiter sind eine Spezies, die mehr im Wege stehen als im Mittelpunkt des Gewünschten. Wirklicher Sachverstand kollidiert hier wie da mit den zirkulierenden zeitgeistigen Denkmodellen. Und die haben die Lufthoheit über das Geschehen in der Gesellschaft wie in der Unternehmensführung. Wenig anderes ist so unerwünscht, wie an dem zeitgeistig Vorgegebenem zu zweifeln. Die Belegschaft um ihre Meinung und ihren Rat zu fragen und beides dann auch ins Kalkül zu ziehen, ist einfach nicht en vogue. Dadurch werden wichtige Potenziale nicht genutzt. Die Belegschaft in die betrieblichen Problemlösungsprozesse einzubinden, bedeutet doch, die betriebliche Problemlösungskompetenz um den Faktor gesunder Menschenverstand zu erhöhen. Ist der diskreditierte gesunde Menschenverstand in seiner Pragmatik doch oft viel realitätsnäher als die an Sprechblasen reiche Organisationsbegrifflichkeit. Hinzu kommt, das hochgestochene Wortgeklingel geht über die Köpfe der Belegschaft hinweg und sorgt für viel Frustration. Der Missmut, der in vielen Unternehmen rumort und im Begriff der inneren Kündigung seine geniale begriffliche Zuspitzung gefunden hat, resultiert mit aus der fehlenden Wertschätzung eigenständig denkender Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. die bank: Herr Professor Burow, haben Sie vielen Dank für Ihre Ausführungen. Die Fragen stellte Hartmut Volk. Der Diplom-Betriebswirt bearbeitet seit 30 Jahren als freier Journalist an der Schnittstelle von Wirtschaft und Wissenschaft Themen aus dem Bereich der Unternehmensführung für Fachmedien im gesamten deutschsprachigen Raum. 02 | 2022 71
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